Die politische Zersplitterung Mitteldeutschlands (mit Ausnahme des Kurfürstentums Sachsen) in Klein- und Kleinststaaten durch diverse Erbteilungen führte auch zu einer sehr vielgestaltigen Orgellandschaft. Das einigende Element, das Mitteldeutschland dennoch gegenüber anderen Gebieten abhebt, war die Reformation, die diesen lutherischen Kernlanden ihre konfessionelle, aber auch kirchenmusikalische Geschlossenheit verlieh.
Eine Vielzahl leicht unterschiedlicher Personalstile der Orgelbauer in den einzelnen Herrschaften hatte einer einheitlichen und sehr hochgesteckten Zielvorstellung zu genügen: Instrumente zu schaffen, auf denen der spezifische lutherische Orgelchoral ebenso darstellbar war wie solistisches Konzertieren, aber auch die Begleitung und Ergänzung größerer Vokal- wie auch Instrumentalensembles. Der Orgelbauer hatte gravitätische und durchdringende Gesamtklänge ebenso zu realisieren wie liebliche und anmutige Einzelstimmen und solche, die zur Begleitung von Solisten oder Ensembles sowie zum Ersatz fehlender Orchesterinstrumente geeignet waren. Das Profil der Orgeln wurde daher von einer Vielfalt musikalischer Anforderungen geprägt, die nicht immer auf den ersten Blick miteinander vereinbar schienen.
Dies wirkte sich in vielerlei Weise auf Gestaltung und Aufbau der Orgeln aus. Viele selbst kleinere Instrumente besaßen zwei oder mehr Manuale, wobei häufig alle Werke in einem großen Gehäuse zusammengefaßt werden sollten (mit den Pedalregistern am linken und rechten Rand). Der Bau von abgesonderten Rückpositiven oder Pedaltürmen nach norddeutschen Vorbildern war aber umstritten, da der Platz auf den Emporen für Sänger und Instrumentalisten benötigt wurde. Man brachte daher das zweite Manualwerk als Ober- oder (seltener) als Brustwerk unter; die Orgelgehäuse benötigten daher oft sehr viel Raum nach oben und ihr Klang scheint sprichwörtlich „aus dem Himmel“ zu kommen.
In vieler Hinsicht ist Mitteldeutschland als Orgellandschaft aber auch ein Spiegelbild seiner geographischen Lage zwischen Nord und Süd, Ost und West. Süddeutsche und altösterreichische Einflüsse (vor allem über Böhmen und Schlesien) wie etwa die Vorlieben für bestimmte grundtönige Farbregister und terzhaltige Mixturen (Trost) begegnen norddeutschen Elementen wie dem Ausbau des Pedals als eigens profiliertes, auch solistisch verwendbares Werk.
In Sachsen dominierte die Silbermann-Werkstatt mit ihren besonders engen familiären Beziehungen ins Elsaß den Orgelbau im 18. Jahrhundert und dadurch gelangten viele französische Merkmale (Cornett nach französischem Vorbild, 4’-Zunge im Pedal, freie Terzregister) ins Land. Der Klang der Silbermann-Orgeln etwa in Freiberg oder Dresden wirkte wiederum vorbildhaft für direkte und indirekte Silbermann-Schüler.
Die mitteldeutschen Orgeln sind für die Nachwelt natürlich von besonderem Interesse. Auf der Suche nach der „Bach-Orgel“ wurden viele der bedeutenden Instrumente als Vorbilder für die Interpretation Bachscher Werke diskutiert. Doch sollte dabei nicht übersehen werden, wie vielfältig und unterschiedlich im Detail die Arbeiten jener Meister waren, ob nun von Silbermann, Hildebrandt oder Trost, und dass sie gerade deshalb dieser Orgellandschaft eine so reichhaltige Palette an musikalischen Möglichkeiten eröffneten wie nur wenigen anderen in Europa. Deshalb ist die wohlgemeinte Suche nach der idealtypischen Bach-Orgel auch wohl in Zukunft vergebens.
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