Stimmung und Temperatur

Einleitung
Die Temperatur ("Stimmung") gehört mit der Intonation des Pfeifenwerks und dem Einfluss der Windversorgung zu den wesentlichen, weil klangentscheidenden Faktoren einer Orgel. Sie ist daher ein genuiner Bestandteil des jeweiligen Klangkonzepts. Soweit möglich sollte sie vor oder während der Restaurierung historischer Instrumente ermittelt und dokumentiert werden. Auf dieser Dokumentation sollte die gut nachvollziehbare Entscheidung beruhen, welche Temperatur eine restaurierte Orgel abschließend erhält.

Im Folgenden werden einige einfache Grundlagen der Temperierung dargestellt.

Begriffliches
Stimmungen (im Gegensatz zu Temperaturen) entstehen durch das Stimmen ausschließlich reiner Intervalle – soweit das unter den nachfolgend beschriebenen Grenzen möglich ist. Spezifische Stimmungen werden hier nicht beschrieben, da sie außerhalb des Epochen-Rahmens, der hier behandelt wird, liegen. Dies gilt vor allem für die pythagoreische Stimmung, die auf elf reinen Quinten beruht und im Lauf des 16. Jahrhunderts aus der Praxis des Orgelbaus entschwand.

Gleichwohl wird hier aus sprachlichen Gründen nicht von "wohltemperierter Temperatur" oder "Wohl-Temperatur" gesprochen, sondern der Begriff "wohltemperierte Stimmung" gebraucht. Die Leser werden um Entschuldigung für diese kleine Inkonsequenz gebeten!

Grundlagen der Temperatur
Jede Temperierung eines Tasteninstrumentes (mit zwölf Tönen pro Oktave) muss den Überschuss, das "pythagoreische Komma", der sich aus der Folge zwölf reiner Quinten zwangsläufig ergibt, irgendwo im Quintenzirkel abziehen.
Das pythagoreische Komma ergibt sich als Differenz zwischen zwölf reinen Quinten und sieben Oktaven. Der Ausgangston wird dabei um etwas weniger als 1/4 Halbton überstiegen.
Man kann das pythagoreische Komma z. B. von einer einzigen Quinte abziehen, oder gleichmäßig oder ungleichmäßig geteilt von verschiedenen Quinten abziehen. Am Ende muss aber immer das pythagoreische Komma in der Summe aller zwölf Quinten einmal subtrahiert sein!

Eine andere wichtige Grundlage ergibt sich zusätzlich daraus, dass eine große Terz aus einer Folge von vier Quinten (z. B. c-g-d-a-e) gebildet wird. Sind diese Quinten völlig rein, ist die resultierende große Terz auch um einen gewissen Überschuss, das sogenannte "syntonische Komma", größer als rein.

Das syntonische Komma ergibt sich aus der Differenz von vier Quinten minus zwei Oktaven und minus einer reinen großen Terz. Der Ausgangston wird dabei um etwas mehr als 1/5 Halbton überstiegen. Tatsächlich liegen die beiden Kommata - selbst schon relativ kleine Intervalle - um eine kleine Differenz, ca. 1/51 gleichstufiger Halbton, auseinander. Allerdings können sich gerade in der Addition schon nur weniger Intervalle selbst bei so kleinen Differenzen hörbare Unterschiede schnell ergeben.

Man nennt die entstehende überschwebende große Terz, die um das syntonische Komma höher als rein ist, auch die "pythagoreische" große Terz. Man sieht sie in der Praxis als eine Art Grenze der brauchbaren großen Terzen an. "Echte" wohltemperierte Stimmungen (s. die weiter unten folgende Beschreibung) erreichen diese Grenze, überschreiten sie aber nicht.
Um aber eine reine große Terz erreichen, muss dieser Überschuss auf irgendeine Weise von den vier Quinten abgezogen werden, die die große Terz bilden.
Um die Aufteilung dieser kleinen Differenzen, der Kommata, kommt man nicht herum, und es gibt keine Lösung, die überall und zu jeder Zeit Allgemeingültigkeit beanspruchen konnte oder kann. Es gab und gibt daher theoretisch unzählige Temperatur-Varianten.

Geschichtliches
Historisch gesehen gibt es drei grundlegend verschiedene Temperatur-Systeme, die unterschiedliche Zwecke verfolgten.

Mitteltönig
Die mitteltönigen Temperaturen versuchen, so viele reine oder fast reine Terzen wie möglich zu erreichen. Dieses Ziel einer harmonisch klingenden großen Terz wird dabei so hoch eingeschätzt, dass man dafür schon relativ stark verkleinerte Quinten in Kauf nimmt und deren gesamten, recht großen Unterschuss einer oder zwei Quinten aufbürdet, die daher sehr stark verstimmt sind und "Wolfs"-Quinte(n) genannt werden. Der "Wolf" liegt im Quintenzirkel meistens auf der "Quinte" g#-es, oder wenigstens in der Nähe. Durch diese Platzierung des "Wolfs" ergeben sich die sehr gut und gleich klingenden, brauchbaren Akkorde auf der gegenüberliegenden Seite des Quintenzirkels mit der gegenüberliegenden Quinte d-a als ungefähre Mitte.

Als ein zentraler Ton im System der alten Kirchentöne ("Primus Tonus") oder der Modi spielt der Ton d auch in den alten Stimmungen und Temperaturen eine beachtliche Rolle. Schon die gebräuchlichste pythagoreische Stimmung hatte die erste, fast völlig reine große Terz über dem Ton d.
Der Ton d, respektive die Quinte d-a, markieren auch die "Mitte" der üblichen mitteltönigen Temperatur (von d respektive a sind es jeweils fünf mitteltönige Quinten bis zur "Wolfs"-Quinte g#-es". Das d' bildet übrigens auch die Symmetrieachse des lange Zeit vorherrschenden Manualumfangs mit kurzer Oktave: CDEFGA-c'''. Immerhin schien diese Symmetrieachse so wichtig zu sein, daß man auch die hinzugefügten Baßtöne F# und G# noch bis nach 1700 meistens als gebrochene Obertasten in neue Tastaturen aufnahm, so daß die Klaviatur-Symmetrie weniger davon gestört wurde. Erst die Erweiterungen um D# (Es) und C#, die auch (aber nicht immer zwingend) mit der Ablösung der mitteltönigen Temperaturen in Verbindung gebracht werden können, erforderten die voll ausgebaute Baß-Oktave.

 

Diejenigen Intervalle, die unter Einschluss des "Wolfs" respektive der (kleineren) "Wölfe" gebildet werden, werden überwiegend als musikalisch unbrauchbar angesehen – während alle anderen Intervalle auf jeden Fall sehr gut brauchbar oder sogar rein sind.

Die Töne sind eindeutig zuzuordnen, "enharmonische Verwechslung" ist nicht möglich.

Zum Beispiel kann ein "es" grundsätzlich nicht auch als "dis" verwendet werden, etc. Von dieser Regel gibt es in sehr seltenen Fällen begründbare Ausnahmen, die aber für die Diskussion in diesem Artikel keine Rolle spielen.

 Die am besten bekannte mitteltönige Temperatur beruht auf acht völlig reinen großen Terzen, wozu das syntonische Komma (s. oben) geviertelt wird und jede Quinte in der Quintenkette, die zu einer reinen großen Terz führt, um 1/4 syntonisches Komma kleiner als rein ist. Diese Temperierung wird auch - nicht ganz korrekt, aber praktisch - als "terzenreine" oder "reine" Mitteltönigkeit bezeichnet. In deutschsprachigen Gebieten wurde sie auch nach Michael Praetorius (1571–1621) als „Praetorianische“, nach Wolfgang Caspar Printz (1641–1717) als „Printzische“ – und um 1700 bei Andreas Werckmeister (1645–1706) als „alte“ oder „algemeine“ Temperatur bezeichnet.

 Die Begrenzung des nutzbaren Intervall- und Akkordvorrats der mitteltönigen Temperatur war immer schon seit ihrer Einführung bekannt. Wegen der gerade im Barock entstehenden, nebeneinander existierenden, unterschiedlichen Tonhöhenstandards (Chor- bzw. Cornett-Ton, Kammerton etc.) war es insbesondere für Organisten notwendig, in diverse Tonarten transponieren zu können. Da dabei die "Ränder" der mitteltönigen Temperatur schnell überschritten werden, begann man früh Möglichkeiten zu erproben, den Tonvorrat zu erweitern. Dies führte z. B. zur technischen Lösung mit zusätzlichen Obertasten (sogen. Subsemitonien – diese Möglichkeit wurde nach 1700 aber kaum noch genutzt). Eine andere Lösung wurde vereinzelt gesucht, indem man zu mehr oder weniger kleinen Modifikationen im Bereich der "Ränder" der mitteltönigen Temperatur griff, wodurch ein oder zwei weitere nutzbare Dur-Akkorde gewonnen werden, die aber nicht so gut klingen, wie der Kernbereich der guten Dur-Akkorde (deren einzelne durch die Modifikation wiederum an Reinheit verlieren).

 Die Charakteristika der zuletzt geschilderten modifiziert mitteltönigen Temperaturen sind:

  • Eine Folge mindestens sechs bis sieben deutlich unterschwebender Quinten im Kernbereich.
  • Mindestens drei oder vier gleichartig große, bessere große Terzen (dies folgt aus dem vorhergehenden Punkt) im Kernbereich: oft z. B. f-a, c-e, g-h, d-f#.
  • Die meisten anderen großen Terzen sind gut bis brauchbar, einige davon schließen direkt und eng an die besten Terzen im Kernbereich an. Die nur brauchbaren sind relativ weit davon entfernt (oft es-g und h-d# betreffend).
  • Eine überschwebende "Wolfs"-Quinte, meistens auf g#-es. Vielleicht auch ein oder zwei, etwas gemilderte (aber auch deutlich überschwebende, kaum brauchbare) "Hunde" in diesem Bereich des Quintenzirkels, etwa auf g#-es plus eine andere Quinte in deren Nähe (oft die benachbarten Quinten).
  • Zwei oder drei mehr oder weniger unbrauchbar große Terzen (statt regulär vier solcher Terzen), die sich durch die vorgenannten "Tiere" ergibt (die "Wölfe oder "Hunde") - oft z. B. f#-b, c#-f, g#-c.

 Aus der vorigen Übersicht ist ersichtlich, dass die wichtigsten Charakteristika der "terzenreinen" Mitteltönigkeit bei der Modifikation zwar noch erhalten bleiben. Gerade die Terzenreinheit kann aber bei größerer Modifikation auch bei den besten großen Terzen schon deutlich abnehmen, z. B. bei denjenigen im Kern noch mitteltönigen Temperaturen, die auf der 1/6-pyth. Komma-Teilung beruhen.
Mitteltönige Temperaturen – d. h. bei weitem überwiegend die „terzenreine“ Mitteltönigkeit – waren zwischen der Mitte des 15. Jahrhunderts bis noch nach 1800 in Europa verbreitet. Der Übergang zu wohltemperierten Stimmungen bzw. oft direkt zur (praktisch gelegten) Gleichstufigen Temperatur vollzog sich zum Teil über mehr als ein Jahrhundert, vor allem auch bei der Umstimmung der vielen existierenden älteren Instrumente, da dies oft eine sehr aufwendige und teure Orgelbaumaßnahme darstellte.

 Wohltemperierung
Typisch für alle wohltemperierten Stimmungen ist dagegen, dass es keine Intervalle gibt, die man für unbrauchbar hält - es gibt also keine "Wolfs"-Intervalle. Alle Intervalle sind mehr oder weniger brauchbar, wenn auch unterschiedlich gut. Die Quinten sind meist um gewisse Teile des pythagoreischen Kommas verkleinert und so im Quintenzirkel verteilt, dass die reineren Terzen in den Tonarten mit wenigen Vorzeichen zu hören sind und mit ansteigender Zahl der Vorzeichen die Reinheit der Terzen mehr oder weniger schrittweise abnimmt.

Da je eine große und eine kleine Terz zusammen eine Quinte ergeben, beeinflussen Größenänderungen der großen Terzen und der Quinten natürlich auch alle kleinen Terzen, die sich im Quintenzirkel ebenfalls verkleinern oder vergrößern; damit auch die Moll-Akkorde.

In wohltemperierten Stimmungen kann man in alle Tonarten unbegrenzt modulieren und die einzelnen Töne sind unbegrenzt enharmonisch verwechselbar. Es ergeben sich konkret wahrnehmbare, abgestufte Unterschiede der Intervallgrößen der Tonarten. Dies führte bereits früh dazu, den Tonarten in diesen Temperaturen unterschiedliche Charakteristik beizumessen, die unweigerlich subjektive Aspekte einbezieht und zu keinem Zeitpunkt Allgemeingültigkeit erhielt.

 Alle diese Neuerungen erschienen ab ca. 1700 mehr und mehr Theoretikern und Musikern als Vorteil gegenüber der Mitteltönigkeit, die eine unbegrenzte Modulierfähigkeit nicht bot, diese allerdings auch gar nicht zum Ziel hatte. Dafür mussten die Wohltemperierungen die "Terzenreinheit" der Mitteltönigkeit weitgehend aufgeben. Die Blütezeit der wohltemperierten Stimmungen, die sich zum Teil aus den modifiziert-mitteltönigen Temperaturen entwickelten, lag zwischen dem Ende des 17. und dem Anfang des 19. Jahrhunderts.

Der Widerstand gegen die Einführung der wohltemperierten Stimmungen war allerdings im Orgelbau nicht selten: Das Umstimmen einer mehr oder weniger großen Orgel bedeutete einen erheblichen Eingriff. Pfeifen waren zu kürzen (seltener anzulängen), und schon die Erreichbarkeit großer Pfeifen spielte eine Rolle. Durch die Veränderung von Pfeifenlängen wurde fast immer die Intonation, die Klanggebung, betroffen – Kürzung einer Pfeife erweitert die relative Mensur und erhöht den relativen Aufschnitt. Dies konnte sowohl weitere Eingriffe ins Pfeifenwerk als auch Änderungen der Windversorgung (Winddruck) nach sich ziehen. Umstimmungen mittelgroßer und großer  Instrumente dauerten daher unter den damaligen Verhältnissen mehrere Monate.

Aber sie gingen doch weitgehend parallel mit der immer noch starken mitteltönigen Tradition und vielfach waren wohltemperierte Entwürfe zunächst theoretische Konstrukte, deren Umsetzung in die Praxis oft erst mit langjährigem Abstand folgte!

Gleichstufig („Gleichschwebend“)
Die gleichstufige Temperatur (historisch auch unrichtig als „gleichschwebend“ bezeichnet) wurde schon in der Renaissance entwickelt, setzte sich aber erst nach der Mitte des 18. Jahrhunderts durch, und zunächst noch sehr langsam. Nach ca. 1850 löste sie die anderen Temperaturen jedoch fast völlig ab und ist heute weit verbreitet. Bei ihr wird das pythagoreische Komma gezwölftelt und dieser Bruchteil gleichmäßig von allen zwölf Quinten abgezogen. Diese Verkleinerung ist aber so gering, dass die Quinten fast rein bleiben, aber daher in der Folge alle großen Terzen gleichmäßig und sehr merklich größer als rein sind (man erinnere sich an die obige Beschreibung des syntonischen Kommas).

Da die Gleichstufigkeit auch mit einer Folge gleichmäßig (leicht) unterschwebenden Quinten arbeitet, könnte man auf die Idee kommen, sie als "1/12-synton.-Komma-mitteltönig" zu bezeichnen. Dies wäre eine falsche Anwendung der Systematik: Die Mitteltönigkeit zeichnet sich unter anderem durch die prinzipielle Eindeutigkeit der Töne aus und in ihr müssen die genannten "Wolfs"-Intervalle vorhanden sein.

Die gleichstufige Temperatur hat auf der einen Seite weder die vielen reinen Klänge der Mitteltönigkeit, auf der anderen Seite aber auch nicht die akustisch-physikalisch begründbare Tonartencharakteristik der wohltemperierten Stimmungen.

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